Wo über Geld gesprochen werden darf

Seit 60 Jahren bietet die Aargauische Evangelische Frauenhilfe gratis Budgetberatungen an. Über den eigenen Geldbeutel sprechen die wenigsten gern. Corona helfe das Tabu zu brechen, sagt die Stellenleiterin.

Alle paar Tage erhält Sandra Alvarez ein Mail von der 20-jährigen Chantal Meyer*. Oft ist ein Schreiben angehängt, zu dem die junge Frau eine Frage hat: ein Formular der Sozialversicherungsanstalt zum Beispiel, oder eine Aufforderung der Pensionskasse. Sandra Alvarez, Sozialarbeiterin der Budget- und Schuldenberatung Aargau–Solothurn (BSAS), die im Auftrag der Aargauischen Evangelischen Frauenhilfe (AEF) eine Budget- und Sozialberatung in Aarau führt, schreibt ihr jeweils rasch zurück. Erklärt, leitet an und ruft ab und zu auch selbst den Behörden an, mit denen Chantal Meyer in Kontakt steht.

Nicht nur Geldsorgen
Als Chantal Meyer im Februar 2021 das erste Mal anrief sagte sie, sie benötige eine Budgetberatung, weil sie zu ihrer Mutter zurückgezogen sei und ihr etwas an die Wohnkosten zahlen wolle. Doch beim Beratungstermin zeigte sich, was sich der Sozialarbeiterin in fast allen ersten Gesprächen offenbart: Der Klientin lag noch vieles anderes auf der Seele. Bei Chantal Meyer waren es unbezahlte Rechnungen. Unter anderem eine für die Ambulanz, welche die junge Frau ins Spital brachte, nachdem ihr Ex-Partner sie geschlagen hatte. Auch hatte sie einige Betreibungen aufgrund von unbezahlten Anschaffungen dieses Ex-Partners, für die sie gehaftet hatte. Sandra Alvarez sagt: «Bei vielen Beratungen kommt eine schwierige Lebenssituation zur Sprache, dies kann dazu führen, dass in manchen Fällen weitere Gespräche nötig sind» Das sei symptomatisch: «Fast niemand geht einfach so in eine Budgetberatung. Über Geld zu reden fällt vielen schwer, vor allem über Schulden. Erst wenn der Druck kaum noch zu ertragen ist, holt man sich Hilfe.»
Die Statistik der BSAS zeigt: Mehr Frauen als Männer gehen in eine Budgetberatung. Sie haben in der Regel zwar Schulden, gelten aber noch nicht als überschuldet. Letzteres betrifft viel mehr Männer. Schulden zu machen, ist in vielen Situationen unumgänglich. Sei es nun der Kredit für das neue Auto oder die Immobilienfinanzierung. Können diese Schulden fristgemäss abgezahlt werden, ist eine Verschuldung nicht negativ zu bewerten. Zu Problemen kommt es dann, wenn die Einnahmen nicht mehr dazu ausreichen, um die bestehenden Verbindlichkeiten sowie andere Ausgaben, etwa die Miete, zu bezahlen. In einem solchen Fall liegt dann laut Definition eine Überschuldung vor. In der Schuldenberatung melden sich mehr Männer. Warum das so ist, kann Barbara Zobrist, Leiterin der BSAS nur vermuten: möglicherweise holen sich Frauen früher Hilfe.

Die Nachfrage steigt
Seit Ausbruch der Pandemie hat die Nachfrage nach den Beratungen zugenommen, im Vergleich zum Jahr 2020 um rund 20 Prozent. Die Krise belastet manchen Geldbeutel, beobachten Barbara Zobrist und Sandra Alvarez. Es treffe besonders jene, die ohnehin wenig verdienen und auf Kurzarbeit sind. Vor allem Frauen aus dem Gastro-Gewerbe und Teilzeitangestellte hätten sich bei ihnen gemeldet. Auch die psychologischen und psychiatrischen Dienste weisen seit einigen Monaten mehr Klientinnen zu. «Die Sensibilität für den engen Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und Geldsorgen wächst zum Glück», sagt Zobrist. Die BSAS habe schon vor Jahren die Trennung von Budget- und Sozialberatung aufgehoben, weil finanzielle Probleme oft an andere Probleme geknüpft seien: Arbeitslosigkeit, Trennung, Erkrankung usw. Ebenfalls spiele mangelnde Kenntnis im Umgang mit Geld und Konsumwünschen eine Rolle. Und wer mal im Rückstand ist, schliddert schnell in eine Spirale: ausstehende Mieten und Rechnungen führen zu Betreibungen und Wohnungsverlust. Einträge im Betreibungsregister zu Problemen bei Job- und Wohnungssuche.

Gratis und entlastend
Die Budget-und Sozialberatung der AEF in Aarau mit zwei Mitarbeitenden wird durch Beiträge von reformierten Kirchgemeinden, Kollekten und Mitgliederbeiträge finanziert. Die Beratung kostet nichts, die Klientinnen erhalten innert kurzer Zeit einen Termin. Oft müsste sie mit ihren Klientinnen erstmals deren Administration aufräumen, sagt die Sozialarbeiterin Sandra Alvarez. «Sie kommen mit Bergen von Papier, Rechnungen und Mahnungen zum ersten Beratungsgespräch. Diese ordnen und priorisieren wir.» Dann schaue man die Einkünfte und mögliche weitere Quellen an. «Kürzlich entdeckten wir zum Beispiel bei einer Klientin, dass sie Anrecht auf eine Halbwaisenrente hätte», so Alvarez. Für ganz dringende Zahlungen besteht ein Topf der AEF, oder die Sozialarbeitenden stellen Gesuche beim «Beobachter», der Glückskette oder Stiftungen. Oft setzen sich die Beraterinnen selbst mit Ämtern in Kontakt, um Vereinbarungen zu treffen. «Viele Menschen sind damit überfordert, selbst Anträge zu stellen.»
Alvarez erlebt oft die entlastende Wirkung der Beratung. «Viele Klientinnen drücken grosse Dankbarkeit aus.» Einige würden sich immer wieder melden, wenn Fragen anstehen. «Wer mal die Schwelle genommen hat und erlebt, wie sehr eine Beratung, eine Budgetplanung entlastet, traut sich eher wieder, unser Angebot zu beanspruchen.»

Budget im Lehrplan 21
Mit Einführung des neuen Lehrplans sind die Schulen verpflichtet, Finanzkompetenz zu vermitteln. Dieser Kompetenzbereich ist dem Fach «Wirtschaft, Arbeit und Haushalt» angegliedert und wird in der 9. Klasse unterrichtet. Das Projekt «Aargauer Finanzführerschein» stellt eine Weiterentwicklung des bestehenden Angebots für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe dar, da sich der Kontext durch den Lehrplan 21 verändert hat. Mit dem Finanzführerschein unterstützt die BSAS die Schulen in ihrem Auftrag, Finanzkompetenz zu vermitteln. Ziel des Projekts ist es, Jugendliche mit dem nötigen Gespür und Wissen auszustatten, damit sie den Weg in die finanzielle Selbstständigkeit gut gerüstet gehen können. Derzeit findet das Pilotprojekt in einer Wettinger Schule statt. «Das Thema Geld kommt immer mehr aus der Tabu-Ecke heraus», freut sich Barbara Zobrist. «Und das ist richtig so. Wir sehen täglich, wie sehr Geldsorgen Menschen belasten. «Ein gutes Budget kann Armutsprävention sein.»

Hilfe für Frauen seit 1909
Die Aargauische Evangelische Frauenhilfe leistet seit über 100 Jahren Hilfe für Frauen: Von 1909 bis 1977 führte sie in Rombach ein Heim für Mädchen aus sozial schwierigen Verhältnissen. 1957 stellte sie zwei Beraterinnen für Lebensfragen an, und seit 1961 gibt es eine Budgetberatungsstelle. Seit 2018 führt die BSAS die Budget- und Sozialberatung im Auftrag der AEF. Das Angebot richtet sich an Einzelpersonen, Paare und Familien unabhängig von ihrer Konfession.

Erschienen im reformiert., Mai 2021

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